Es ist grundsätzlich erlaubt eine Fahrzeugkolonne zu überholen. Eine unklare Verkehrslage muss man nur beim Vorliegen besonderer Umstände berücksichtigen und den Vorgang abbrechen, beziehungsweise erst gar nicht angehen. Das befreit jedoch nicht von der sogenannten allgemeinen Betriebsgefahr. Dies hat das Oberlandesgericht München im Februar 2017 entschieden.
In dem zu verhandelnden Fall kam es beim Überholen einer Fahrzeugkolonne aus mehreren Pkw zu einem Verkehrsunfall auf einer Bundesstraße. Das vorderste Fahrzeug der Kolonne fuhr mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h bei erlaubter Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h. Ein in der Kolonne befindlicher Fahrer eines BMW 745i entschied sich bei klarer Sicht nach vorne und keinem Gegenverkehr die Fahrzeugkolonne zu überholen. Dies bemerkte eine weiter vorne in der Kolonne befindliche Pkw-Fahrerin. Um noch vor dem BMW-Fahrer die Kolonne überholen zu können, scherte sie ebenfalls nach links aus. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit dem BMW. Dessen Fahrer klagte anschließend gegen die Pkw-Fahrerin auf Zahlung von Schadensersatz und sah sie als Alleinschuldige.
Das Oberlandesgericht München entschied zum Teil zu Gunsten des Klägers – sah aber eine Mithaftung in Höhe von 20 Prozent als gegeben. Das Landgericht Deggendorf hatte zuvor auf eine Haftungsverteilung von 60 Prozent zu 40 Prozent zu Lasten der Beklagten entschieden. Beiden Fahrzeugführern sei ein Verschulden an dem Unfall anzulasten.
Ein Mitverschulden des Klägers an dem Unfall habe sich nach Ansicht des Oberlandesgerichts nicht daraus ergeben, dass er trotz unklarer Verkehrslage zum Überholen angesetzt habe. Denn eine solche habe faktisch (klare Sicht nach vorne, kein Gegenverkehr) nicht vorgelegen. Das Überholen einer Fahrzeugkolonne sei schließlich nicht unzulässig.
Für die Annahme einer unklaren Verkehrslage müssten weitere Umstände hinzukommen, so das OLG. Dies sei etwa zu bejahen, wenn die Kolonne nur mit 25 km/h fährt und ein Überholen zuvor durch eine durchgezogene gerade Linie auf der Fahrbahnmitte untersagt war – oder etwa die zu überholenden Fahrzeuge langsamer werden und mehrere Fahrzeuge nach links blinken. Solche Umstände hätten hier aber nicht vorgelegen.
Die schlussendlich doch angenommene Mithaftung des BMW-Fahrers in Höhe von 20 Prozent ergebe sich lediglich aus der allgemeinen Betriebsgefahr des Fahrzeugs. Das Verschulden der beklagten Fahrerin sei nicht derart hoch, dass dahinter die Betriebsgefahr zurücktrete.
Mit dem Begriff der Betriebsgefahr besteht ein weitreichender Ausnahmetatbestand von dem im deutschen Schadensrecht geltenden Verschuldensprinzip geschaffen. Grundgedanke dieses Haftungsbegriffs ist die Annahme, dass mit dem Betrieb bestimmter technischer Maschinen und Geräte wie Kraftfahrzeugen, Eisenbahnen, Luftfahrzeugen usw. eine besondere Gefahrenquelle für die Allgemeinheit oder für Einzelne geschaffen wird. Diese grundsätzlich unabhängige Mitverantwortung mindert regelmäßig die sonstigen Verschuldensanteile der anderen an einem Unfall beteiligten Personen.
Oberlandesgericht München, Urteil vom 24.02.2017; AZ – 10 U 4448/16 –